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Neurodivergenz – Wenn das Gehirn anders funktioniert

Fachartikel von Robert Riedl

Immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene erleben, dass ihr Denken, Fühlen oder Verhalten irgendwie „nicht in die Norm“ passt – und leiden unter Missverständnissen, Ablehnung oder Erschöpfung. Sie sind nicht weniger wert. Und sie sind nicht krank im klassischen Sinn. Sie sind einfach anders neurologisch organisiert. Das nennt man neurodivergent. Und das betrifft viele – oft ohne dass sie es selbst wissen: ADHS, Autismus, Hochsensibilität, Legasthenie, Mutismus, Tourette, Misophonie – all das gehört zur Vielfalt neurodivergenter Erfahrungen.

Dieser Artikel will helfen, diese Unterschiede zu verstehen – nicht zu diagnostizieren, sondern mit mehr Einfühlung zu begleiten: als Eltern, Lehrkraft, Therapeut:in, Freund:in oder einfach als mitfühlender Mensch.

Was bedeutet „neurodivergent“?

Der Begriff Neurodivergenz meint eine andere Art, wie das Gehirn Reize verarbeitet, Entscheidungen trifft, Emotionen reguliert oder soziale Signale deutet. Er wurde ursprünglich aus der Autismus-Community heraus geprägt – heute umfasst er viele neurologische Varianten, die nicht der Durchschnittsverarbeitung entsprechen.

Wichtig:

  • Neurodivergenz ist kein Krankheitsetikett, sondern ein Vielfaltsbegriff.

  • Es geht um die Passung zwischen einem Menschen und seiner Umwelt – nicht um ein Defizit im Inneren.

  • Viele neurodivergente Menschen haben sowohl besondere Herausforderungen als auch einzigartige Fähigkeiten.

Die häufigsten neurodivergenten Muster – mit Beispielen und therapeutischen Hinweisen

1. Aufmerksamkeit & Selbststeuerung

Diese Muster betreffen das Steuern von Gedanken, Reizen, Impulsen und Handlungen.

Was passiert? Das Gehirn kann Wichtiges nicht gut von Unwichtigem trennen. Es reagiert schneller, impulsiver, aber auch kreativer – oder schaltet nach innen, wird langsam und „träumerisch“.

Typische Formen:

  • ADHS (mit/ohne Hyperaktivität): Gedanken rasen, Aufmerksamkeit springt, innere Unruhe.
    Beispiel: Ein Jugendlicher unterbricht ständig, vergisst Hausaufgaben, kann sich aber stundenlang mit Robotern beschäftigen.

  • Stillere Variante – Hypoaktives ADHS (früher SCT): Verträumtheit, langsamer Antrieb, wirkt unbeteiligt – oft übersehen.
    Beispiel: Ein Mädchen starrt beim Unterricht aus dem Fenster, macht wenig mit – in Gedanken entwirft sie komplexe Romanwelten.

  • Schwächen in der Handlungssteuerung (Exekutivfunktionen): Man weiß, was zu tun wäre – aber kommt nicht ins Tun.
    Beispiel: „Ich will wirklich anfangen zu lernen, aber ich finde den Anfang nicht.“

Was hilft in Therapie oder Begleitung?

  • klare Strukturhilfen (Checklisten, Timer, Farbcodes)

  • Lob für Anfangen statt für Perfektion

  • Reize reduzieren (ruhige Räume, weniger Ablenkung)

  • nicht als „faul“ oder „undiszipliniert“ abwerten

2. Autistische Wahrnehmung & soziale Reizverarbeitung

Hier geht es um Menschen, die soziale Informationen anders filtern: Gestik, Mimik, Ironie, Gruppendynamik sind schwer verständlich – dafür sind sie oft exzellent im Erkennen von Mustern, Logik oder Struktur.

Was passiert? Statt intuitiv mitzureden, analysieren sie jede Geste, jeden Satz. Sie brauchen Klarheit – keine versteckten Regeln.

Typische Formen:

  • Autistisches Spektrum (ASS): Detailverliebtheit, klare Routinen, aber oft Überforderung durch Lärm, Chaos oder Widersprüchlichkeit.
    Beispiel: Ein Schüler kann perfekt ein U-Bahn-Netz auswendig – aber versteht nicht, wann man im Gespräch jemandem ins Wort fallen darf.

  • Pathological Demand Avoidance (PDA): Schon kleinste Anforderungen lösen Panik oder Widerstand aus – nicht aus Trotz, sondern aus Kontrollverlust.
    Beispiel: Ein Kind sagt „Nein“, obwohl es das Spiel liebt – weil jemand anderes entschieden hat, dass es spielen soll.

  • Alexithymie: Gefühle sind schwer benennbar, innerlich wie abgeschnitten.
    Beispiel: „Mir ist schlecht“ statt „Ich habe Angst.“

Was hilft?

  • Kommunikation konkret und direkt machen

  • keine Ironie, keine impliziten Erwartungen

  • „Selbstwahl“ statt Zwang (z. B. Angebote statt Befehle)

  • Gefühle sichtbar machen: Farbcodes, Körperkarten, Moodboards

3. Sinneswahrnehmung & Reizempfindlichkeit

Der Alltag ist voller Geräusche, Licht, Bewegung, Gerüche – für manche ein angenehmes Grundrauschen, für neurodivergente Menschen oft ein Overload.

Was passiert? Die Reizfilter im Gehirn funktionieren anders – zu wenig oder zu stark. Das kann zu starker Überforderung oder bizarren Vorlieben führen.

Typische Formen:

  • Hochsensibilität (HSP): Überreizung durch Geräusche, Menschen, Konflikte – aber tiefe emotionale Resonanz.
    Beispiel: Eine Jugendliche beginnt zu weinen, wenn zwei Freundinnen sich streiten – obwohl sie selbst nicht beteiligt ist.

  • Sensorische Verarbeitungsstörung (SPD): Kleidung kratzt, Zahnbürsten ekeln, Bewegungen müssen rhythmisch wiederholt werden.
    Beispiel: Ein Kind erträgt keine Jeans – aber trägt täglich dieselbe weiche Hose.

  • Misophonie: Wut auf bestimmte Geräusche (z. B. Kauen, Atmen, Ticken).
    Beispiel: Ein Schüler flippt aus, wenn jemand in der Klasse mit dem Kuli klickt.

  • Synästhesie: Verschmelzung von Sinneseindrücken (z. B. Zahlen haben Farben, Geräusche schmecken).
    Beispiel: Die Zahl 4 ist für ein Kind „blau und riecht wie Zahnpasta“.

Was hilft?

  • Rückzugsräume schaffen

  • sensorische Profile erstellen (was tut gut, was nicht?)

  • Verständnis für scheinbar „komisches“ Verhalten

  • keine Reizüberflutung in Schule, Therapie, Öffentlichkeit

4. Lernen, Sprache und schulische Leistung

Viele neurodivergente Kinder sind intelligent – aber ihre Stärken passen nicht in das System Schule.

Was passiert? Lesen, Rechnen, Schreiben, Hören – alles funktioniert, aber nicht automatisch. Und oft nicht gleichzeitig.

Typische Formen:

  • Legasthenie (Dyslexie): Buchstaben tanzen, Wörter verschwinden, Texte verwirren.
    Beispiel: Mündlich ist ein Kind eloquent – schriftlich fallen Worte aus dem Rahmen.

  • Dyskalkulie: Mengen, Zahlen, Rechenwege – das Gehirn kodiert Zahlen nicht intuitiv.
    Beispiel: Ein Kind zählt beim Rechnen immer mit den Fingern – auch in der 6. Klasse.

  • Dysgraphie: Schrift wirkt chaotisch, Sätze bleiben unvollständig.
    Beispiel: „Ich kann denken – aber meine Hand kommt nicht mit!“

  • AVWS (auditive Verarbeitungsstörung): Sprache kommt „verzögert“ oder „verwaschen“ an.
    Beispiel: „Ich hab das gehört, aber ich weiß nicht, was es heißt.“

Was hilft?

  • alternative Lernformen (visuell, motorisch, digital)

  • Pausen, Wiederholungen, Visualisierungen

  • Entkoppeln von Leistung & Intelligenz

  • keine Strafe für Langsamkeit – sondern Zeit geben

5. Kommunikation & Sprache

Nicht alle Kinder reden – und nicht alle, die reden, kommunizieren damit so, wie wir es erwarten.

Was passiert? Sprache ist da – aber sie funktioniert auf andere Weise. Manche sagen nichts. Andere wiederholen alles. Manche reden viel, aber ohne Bezug zum Gegenüber.

Typische Formen:

  • Selektiver Mutismus: In bestimmten Situationen (z. B. Schule) wird nicht gesprochen – nicht aus Trotz, sondern aus Angst.
    Beispiel: Ein Kind spricht nur mit den Eltern – nicht mit Lehrer:innen.

  • Sprachentwicklungsstörung (SES): Satzbau, Grammatik, Wortwahl hinken hinterher.
    Beispiel: „Ich gehen Schule du nicht?“ – mit fünf Jahren.

  • Echolalie: Worte oder Sätze werden wiederholt – aus Beruhigung, Orientierung oder innerem Rhythmus.
    Beispiel: Kind sagt mehrmals täglich: „Ich hab keine Zeit.“ – auch ohne Zusammenhang.

Was hilft?

  • Sprache nicht erzwingen

  • nonverbale Kommunikation fördern (Bilder, Gesten, Rituale)

  • Stressreduktion durch Wiederholungen erlauben

  • Sprache als Ausdruck akzeptieren – nicht nur als Inhaltsträger

Fazit: Neurodivergenz ist Vielfalt

Neurodivergente Menschen sehen, hören, denken und fühlen anders. Sie sind nicht falsch – nur ungewohnt.
In Therapie, Schule oder Familie geht es nicht darum, „normal“ zu machen – sondern herauszufinden: Was braucht dieser Mensch, um gut zu leben?

Was zählt:

  • Verstehen statt Verändern

  • Sicherheit statt Strafe

  • Stärken statt Schwächen

  • Anpassung der Umwelt statt Anpassung der Person



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