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Wie sich Gehen, Spazieren oder Wandern auf unsere seelische Befindlichkeit auswirkt

Interview mit Robert Riedl

Unbestreitbar gibt es zwischen psychischen und körperlichen Phänomenen Wechselwirkungen. Charles Schulz, der Erfinder der "Peanuts", hat dies mit der sogenannten Charlie-Brown-Übung humorvoll dargestellt. "Wenn du deprimiert bist", sagt Charlie Brown einmal, "ist es sehr wichtig, stark gebeugt dazustehen. Das Verkehrteste wäre, mit erhobenem Kopf und aufrecht zu gehen."

Tatsächlich geht psychisches und physisches Geschehen ineinander über. Vereinfacht könnte man sagen: "Wie man geht, so ergeht es einem; und wie es einem ergeht, so geht man."

Wie kann das Gehen in der Psychotherapie helfen?*)

In wissenschaftlichen Studien konnte gezeigt werden, dass Menschen nach einer abgeschlossenen Psychotherapie auch weniger oft körperlich krank sind. Psychische Gesundheit stärkt nämlich unter anderem unser Immunsystem. Anderseits können Allergien in Zeiten entstehen, wo wir psychisch sehr belastet sind – und zum Beispiel nach einer Traumatherapie auch wieder verschwinden. Genauso nachgewiesen ist die förderliche Wirkung von Sport und Bewegung. Regelmäßiges Gehen verlängert unsere Lebenserwartung. Durch Gehen wird innerlicher Stress schon nach zehn Minuten weniger erlebt. Es macht uns einfach entspannter und kann so auch Anspannungs- oder Angstzustände verringern. Gehen regt zudem die Ausschüttung von Glückshormonen an und kann so sogar das Auftreten von Depressionen reduzieren.

Psychotherapie im Gehen oder "Psychotherapie bewegt" – wie ich gern dazu sage – nützt diesen Doppeleffekt. Einerseits fördern therapeutische Interventionen die seelische Gesundheit. Andererseits wirkt sich Gehen sowohl auf die psychische als auch körperliche Gesundheit aus. So gesehen erfasst Psychotherapie im Gehen Personen mehr in ihrer Einheit aus psychischen und physischen Prozessen. Bewegung in der Natur wirkt wohltuend auf alle Sinne. Allein das Betrachten von Naturlandschaften kann nachweislich Stress abbauen, da sinnliche Eindrücke wie Geräusche oder Gerüche stark auf unser Unbewusstes wirken. Ein Waldspaziergang lässt Ruhe in der Seele einkehren und belebt unser Gemüt.

Nicht zu vergessen ist natürlich, dass wir als Individuum mit Körper und Seele immer in sozialen Systemen (wie Familie, Freundeskreise oder Arbeitsgemeinschaften) eingebunden sind. Außerdem leben wir seit jeher innerhalb ökologischer Umwelten. Man spricht wortwörtlich von der menschlichen Natur, wenn versucht wird das Wesen des Menschseins zu begreifen.

Gehen kann als Sinnbild für das Leben selbst aber auch für eine Psychotherapie gesehen werden: es gibt einen Anfang, ein Ziel bzw. eine Richtung und einen Weg, auf dem sich Hindernisse befinden können. Und am eigenen Lebensweg suchen wir alle sozusagen nach Blumen: nach Sinn und Erfüllung. Wir werden vom Leben aufgefordert Antworten auf ein Woher-komme-ich?, ein Wer-bin-ich? und ein Wohin-gehe-ich? zu finden.

Dabei geht es immer auch um ein Erleben von Vitalität, eine Erfahrung von Lebendigsein. Und Lebendigkeit ist eine Gestalt, die aus unseren Wahrnehmungen von Bewegung, Kraft, Zeit, Raum und Absicht hervorgeht. – Diese vitalen Dimensionen gilt es auch in der Psychotherapie zu beherzigen, um Personen besser ins seelische Gleichgewicht zu bringen. Auch dem Gehen wohnen immer Bewegung und Energie, Zeit und Raum sowie eine Richtung inne. Man begibt sich im Leben sozusagen auf eine Reise nach außen und nach innen.

Der Psychotherapeut spielt dabei eher die Rolle eines entbindenden Schamanen, wie Sokrates mit seiner "Hebammenkunst des Fragens". Psychotherapeut stellen Verfahren zur Verfügung, mit deren Unterstützung quasi im übertragenen Sinn "Geburten" stattfinden können. Doch gebären muss der Klient immer selber. Er ist der Held seiner Entwicklungsreise, der Psychotherapeut ist bloß Begleiter.

Bei welchen Krankheitsbildern ist das Gehen besonders hilfreich und warum?

Der Großteil der Personen, die einen Psychotherapeuten aufsuchen, leidet unter depressiven Verstimmungen. Sie fühlen sich freudlos, unmotiviert und dauerhaft erschöpft, können oft schlechter schlafen und leiden unter Überforderung bis zu sogenannten Panikattacken. Depressionen können ganz verschiedene Ursachen haben, etwa eine dauerhaft belastende Lebenssituation, ein schwerer Unfall oder der Tod einer nahestehenden Person. Depressive Zustände sind inzwischen die häufigste seelische Ursache für Krankenstände. Im Zuge der Corona-Pandemie ist die Zahl der Betroffenen angestiegen, wobei nun auch besonders Jugendliche betroffen sind.

Ebenso sind Angstzustände und Stressymptome häufig Themen in der Psychotherapie. Oft kommen körperliche Beschwerden hinzu: wie Nackenverspannungen oder Kopf-, Rücken- und Muskelschmerzen bis zu Verdauungsproblemem. Psychischer Leidensdruck erhöht die körpereigene Produktion von Stresshormonen wie Adrenalin oder Cortisol, die auch wichtige Schlafhormone blockieren können. Die bekannteste Stresserkrankung, im fortgeschrittenen Stadium "Burnout" genannt, wird Erschöpfungsdepression genannt, da ganz ähnliche Symptome wie bei Depressionen auftreten. Aber: nur wer für etwas brennt, kann ausbrennen. Dabei gibt es wenig Unterschiede zwischen einem Manager oder einer alleinerziehenden Mutter, die nahmen der Arbeit im Home-Office ihre Kinder aufgrund von Wechselunterricht oder Distance-Learning betreuen muss: man hat alles gegeben und ist an die eigenen Grenzen gekommen!

Alle diese Krankheitsbilder sind in einer Psychotherapie gut behandelbar. Regelmäßiges Gehen – in oder außerhalb der Therapie – vor allem in die Natur, kann dabei zusätzlich unterstützend sein, um gezielt die eigene Gefühlsstimmung einzuwirken. Auch die Schlafqualität, das Selbstvertrauen und der eigene Selbstwert verbessern sich durch regelmäßige Bewegung – auch um besser in Gang kommen zu können. Und Gehen entspannt uns einfach. Es verringert Stress und Müdigkeit schon nach zehn Minuten.

Depressionen können auch in direkten Zusammenhang mit Bewegungsmangel stehen. Es ist nachgewiesen, dass regelmäßiges Gehen das Auftreten von Depressionen, Ängstlichkeit und Stress verringert. Gefühle der Hoffnungslosigkeit oder Leerheit können sprichwörtlich vergehen, wenn man in die Natur geht. Der Grund ist einfach: Wenn wir gehen, setzt unser zentrales Nervensystem sogenannte Neurotransmitter frei. Diese Botenstoffe im Gehirn verbessern unsere Denkleistung und Kreativität, aktivieren das Kurzzeitgedächtnis und unsere Fähigkeit Probleme zu lösen. Gehen erhöht nachweislich die Ausschüttung von Serotonin und Endorphin. Diese Hormone sind für unser Wohlergehen zuständig. Sie wirken gegen Stress und stärken unsere seelische Balance. Serotonin lindert auch depressive Symptome. Eine Studie mit schwer depressiven Menschen ergab eine deutliche Besserung der Symptome, nachdem sie täglich fünf Mal vom Erdgeschoss in den fünften Stock gingen.

In physischer und psychischer Bewegung kann man sich wohlwollender mit sich selber und belastenden Themen auseinandersetzen. Durch das äußere Voranschreiten schreitet auch in uns etwas voran. Neue Gedanken und Perspektiven werden möglich. Denken und Gehen lassen sich gut miteinander verknüpfen. Die frische Luft hilft uns den Geist zu klären, um klarere Entscheidungen treffen zu können. Die Natur stärkt das Intuitive und Imaginative. Es wird leichter, die depressive oder stressbedingte Dynamik aus Gefühlen, Gedanken und körperlichen Beschwerden zu durchbrechen.

Wie läuft etwa eine Therapie im Gehen ab?

Ich biete Psychotherapie im Gehen nur auf Wunsch von Klienten an, weil Klienten das Gehen als Ressource ganz unterschiedlich erleben können. Auch nicht alle wollen eine Psychotherapie im Gehen machen, zum Beispiel weil sie beim Gesprach lieber den geschützten Rahmen eines Therapieraumes bevorzugen. In jeder Psychotherapie geht es darum, eigene Ressourcen und Fähigkeiten zu aktivieren, um Lebens- oder Entwicklungsaufgaben besser bewältigen zu können. Dabei ist Gehen eine körperliche Ressource und Fähigkeit, die wir alle können und auch für uns nützen könnten – sofern wir nicht unter Einschränkungen in unserer Mobilität zu Fuß leiden.

Zudem kombiniere ich immer Psychotherapie im Gehen mit einer eine Psychotherapie in der Praxis, weil beides bestimmte Vorteile für den therapeutischen Prozess bietet. Zunächst ist wichtig zu erwähnen, dass es in einer Psychotherapie im Gehen um kein "Gipfel-Erklimmen" geht. Es geht um ein Gehen, das leicht fällt. Im Vordergrund stehen immer die persönlichen Therapieziele, die ganz individuell gesetzt werden. Und die Ziele jeder Therapie kläre ich als Psychotherapeut mit meinen Klienten am Beginn ab bzw. in den Erstgesprächen, die immer in der Praxis stattfinden – genauso wie die Abschlussgespräche am Ende der Therapie.

Ganz pragmatisch gesehen ist das psychotherapeutische Gehen vom Wetter abhängig. Deshalb biete ich als Psychotherapeut das Gehen nur von April bis Ende September an. Außerdem findet die Therapieeinheit ab einer Regenwahrscheinlichkeit von 50 % (zum Zeitpunkt des Termins) in der Praxis statt. Kurz gesagt findet bei der Psychotherapie im Gehen der therapeutische Dialog beim Spazieren in der Natur statt. Dabei werden die Wege gemeinsam mit dem Klienten gewählt und der Startpunkt mit dem Termin vereinbart. Das kann therapeutische bzw. inhaltliche Gründe aber auch ganz pragmatische Gründe haben, wie die Anfahrt.

In Graz habe ich insgesamt 24 therapeutische Gehrouten erkundet, die einen möglichst geschützten Rahmen garantieren. Es sind eher abgelegene und weniger frequentierte Pfade. Unter freien Himmel sollten persönliche Themen bearbeitet werden können, ohne die sichere und vertrauensvolle Atmosphäre einer Therapie zu gefährden. Dabei geschieht fast alles, was auch in der Therapie in der Praxis geschieht, wobei ich als Systemischer Psychotherapeut vor allem lösungsorientierte, imaginative, narrative aber auch körperfokussierende Methoden verwende. In der Mitte der Zeit lasse ich mich von einem Zeitsignal erinnern, um die verbleibende Zeit gut einteilen zu können. Am Ende der jeweiligen Therapieeinheit im Gehen gelangen wir an den jeweiligen Startpunkt zurück. Alle therapeutischen Gehwege, die ich in Graz nütze, wurden von mir so ausgesucht, dass sie Parkplatz-Möglichkeiten haben, auch öffentlich erreichbar sind und es erlauben vor sowie nach dem Gehen die Toilette zu benützen (was in der Corona-Zeit schwieriger ist, weil momentan Gasthäuser und Cafes geschlossen sind).

Was passiert in unserem Kopf und mit unserer Psyche, wenn wir Spazierengehen?

Im Gehen – insbesondere im Wald – nimmt der Sauerstoffgehalt im Blut zu, wovon das Gehirn und alle Organe profitieren. Zudem verringert Gehen den Zuckergehalt im Blut, normalisiert die Blutfettwerte und verbessert somit unsere Blutwerte. Ein Spaziergang an der frischen Luft hilft Sonnenlicht zu tanken, um damit die Vitamin-D-Produktion anzukurbeln. Gehen regt auch den Stoffwechsel an. Unser Kreislauf wird durch Bewegung angeregt und stärkt somit den Kreislauf. Spazierengehen unser Immunsystem. Es kurbelt die eigenen Selbstheilungskräfte an. Andererseits aktivieren sich durch Bewegung biochemische Prozesse im Körper, die den Abbau von Stresshormonen begünstigen. Spazierengehen entspannt Muskeln und Nerven. Sie kommen sozusagen zur Ruhe. Entspannte Spaziergänge senken unseren Blutdruck und die Herzfrequenz, regulieren den Puls und vermindern die Adrenalin-Ausschüttung und damit unseren Stresspegel bzw. Stresslevel.

Gehen regt einerseits die Ausschüttung sogenannter Glückshormone im Gehirn an (wie Endorphin und Serotonin) und erhöht unsere Konzentrationsfähigkeit. Die frische Luft hilft uns den Geist zu klären, unsere Gedanken scheinen klarer zu werden und wir können klarere Entscheidungen treffen. Viele Schriftsteller berichten davon, wie sie vom Gehen profitieren. Thomas Bernhard hat eine Erzählung namens "Gehen" geschrieben, und im Roman "Holzfällen" schreibt er, dass "in die Natur hineingehen das höchste Glück sei." Christian Morgenstern hat einmal gesagt: "Gedanken wollen – wie Hunde -, dass man mit ihnen im Freien spazieren geht." Auch Gefühle kommen und gehen wieder. Wir sind von ihnen innerlich bewegt.

Die Rhythmen unserer Schritte und Atemzüge geschehen automatisch. Beides verbindet unser Inneres mit dem Außen. Mit jedem Schritt berühren unsere Fußsohlen die Erde. Wir erden uns im Gehen. Auch die Atmung verbindet uns ständig mit der Außenwelt. Ein- und Ausatmen lässt unser Innen mit dem Außen fließend ineinander übergehen. Man kann ins Aufsetzen der Füße oder in den Atmen bewusst eingreifen. Wir steuern unsere Muskelkraft und Gehbewegung, um mehr in Kontakt mit uns selbst oder mit unserer Umwelt zu gelangen. Wir können das natürliche Grün sinnlich erfahren und "Mutter Natur" sehen, hören, riechen, auf der Haut spüren und sogar schmecken. Unter freiem Himmel werden innerliche Prozesse angestoßen und können dem Bewusstsein zugänglicher gemacht werden.

Gehen an sich hat also bereits einen therapeutischen Effekt auf Körper und Psyche. Gehen verbessert die Herzgesundheit. Es fördert Ausdauer, Gelenkigkeit sowie Koordinationsfähigkeit und trainiert unseren Gleichgewichtssinn. Gehen kräftigt die Muskulatur und Knochendichte, macht Gelenke belastbarer, massiert Rücken und Bandscheiben, kann Gelenk- und Rückenschmerzen lindern, bremst den Muskelschwund und reduziert die Osteoporose-Gefahr. Gehen halbiert das Alzheimer-Risiko und beugt Altersdemenz vor. Und Gehen senkt das Risiko für viele Krebsarten.

Gibt es eine optimale Art des Spazierengehens für unsere Psyche – sprich kann man richtig oder falsch Spazierengehen?

Gehen sollte einfach gehen. Man könnte sagen: Was uns gut tut, tut auch unserer Seele gut. Schmerzen können ein Hinweis auf Überlastung, Abnützungen oder akute Entzündungen sein. Normalerweise soll man bei Muskel- oder Gelenkschmerzen den Bewegungsapparat schonen. Oft sind sie jedoch eine Folge von Inaktivität. Dann wäre Nichtbelastung genau die falsche Medizin für Körper und Seele. Unsere Vorfahren sollen in der Steinzeit täglich 20 bis 40 Kilometer zu Fuß zurückgelegt haben. Heute gehen wir in den Industriestaaten durchschnittlich nur noch zwei bis fünf Kilometer – allerdings wöchentlich. Biologisch gesehen sind wir also als Geh- und Laufwesen konzipiert. Die Evolution hat unseren Körper speziell zum aufrechten Gang entwickelt, also zum Gehen und Laufen.

Richtiges Gehen hat nun einerseits mit dem richtigen oder angemessenen Ausmaß zu tun – also der Länge und der Häufigkeit bzw. dem Wie-lange? und Wie-oft? Die WHO definiert Gesundheit als einen "Zustand des vollständigen körperlichen, mentalen und sozialen Wohlergehens". Um körperlich, seelisch und geistig vitaler zu werden, empfiehlt die Gesundheitsweltorganisation täglich 10.000 Schritte zu machen. Das entspricht einer Gehstrecke von etwa sechs bis sieben Kilometern oder einer Gehzeit von einer guten Stunde. Empfohlen wird zumindest ein täglicher Spaziergang von einer halben Stunde. Man lebt schon deutlich gesünder, wenn man an drei Tagen pro Woche eine halbe Stunde geht und etwa 5.000 Schritte zurücklegt. Dabei sollte man eher flott gehen, um ein wenig außer Atem und leicht ins Schwitzen zu kommen. Wenn man zu zweit geht – jedenfalls bei der Psychotherapie im Gehen – ist es empfehlenswert in einem Tempo zu gehen, dass man entspannt Atmen bzw. im Gehen reden kann, ohne außer Atem zu kommen.

Beim Gehen an sich kann man zwischen Fersengang und Ballengang unterscheiden. Erwachsene gehen im Fersengang. Diese Art des Gehens wird übertrieben beim militärischen Marschieren praktiziert. Ein zu ausgeprägter Fersengang kann die Ursache für Beschwerden sein. Wer durch den Alltag hetzt, tritt vor allem mit den Fersen auf. Er geht wie ein Soldat. Kinder gehen bis etwa zum zehnten Lebensjahr im Fußballengang. Bei dieser Gangart treten wir zuerst mit dem Mittelfuss auf und scheinen mit dem Ballen über den Boden zu gleiten. Vereinfacht gesagt geht man dabei ein bisschen wie ein Tänzer. Man kann den Ballengang ganz leicht erkunden, indem man einfach Treppen hochsteigt oder eine Steigung hinaufgeht. Hier stellt er sich ganz natürlich ein.

Beim Bergaufgehen wäre es wichtig, bewusst langsamer zu gehen. Kleinere Schritte sind dabei angebracht. Wer viel bergauf geht oder Stiegen steigt, stärkt besonders seine Gelenke und Knochen. Beim Hinuntergehen wird unsere Beinmuskulatur am besten trainiert. Auch hier sollte man langsam gehen und eher kleine Schritte machen. Die Schrittlänge wird am besten so gewählt, dass das eigene Gewicht nicht mit jedem Schritt abgebremst werden muss. Der Nachteil beim Abwärtsgehen liegt darin, dass die Gelenke im Knie- und Hüftbereich stärker gefordert werden. Entlastung können hier Wanderstöcke bieten. Wer Beschwerden beim Gehen hat, kann ganz bewusst schonend und langsam gehen. Dabei können ruhig auch längere Strecken zurückgelegt werden. Wichtig ist nicht der Grad der Anstrengung, sondern die Regelmäßigkeit. Am besten hört man mit dem Gefühl zu gehen auf, noch weitergehen zu können.

Könnte Spazierengehen bei manchen psychischen Krankheitsbildern sogar Medikamente ersetzen?

Ich würde sagen: ja, körperliches Training kann bei Depressionen, Angstzuständen und Stresserkrankungen in einem ähnlichen Maße wirksam sein wie eine medikamentöse Therapie. Wobei ich als Psychotherapeut mehr für ein Sowohl-als-auch eintrete – als für ein Entweder-oder. Eine Kombinations-Therapie kann bei schwereren Symptomatiken nützlich sein, weil man an verschiedenen Punkten in der Dynamik ansetzt: also zum Beispiel durch Psychotherapie, medikamentöse Therapie und körperliche Betätigung etwa durch regelmäßiges Gehen.

Schlussendlich könnten Klienten selbst am besten feststellen, was ihnen guttut und ob bzw. welche Art von Therapie für sie hilfreich ist. Als Systemischer Psychotherapeut habe ich einen sehr therapieneutral Zugang: vereinfacht gesagt alles, was hilft bzw. hilfreich erscheint, sollte eingesetzt werden. Nachweislich sind psychotherapeutische Heilverfahren für die seelische Gesundheit wirkungsvoller als viele Behandlungen von körperlichen Erkrankungen. Personen brechen eine psychotherapeutische Begleitung auch deutlich seltener ab als medikamentöse Therapien. Man zieht Psychotherapie lieber vor als Psychopharmaka.

Als Psychopharmaka werden Medikamente bezeichnet, die vor allem bestimmte Stoffwechselvorgänge im Gehirn beeinflussen. Man könnte ein Psychopharmakon wie eine "Krücke" oder einen "Gips" für die Seele verstehen: es unterstützt die Selbstheilungskräfte und hilft die Psyche in eine gesunde Balance zu kommen, damit es uns möglichst schnell wieder gut geht. Der Unterschied zwischen Drogen – wie Alkohol oder Cannabis – und Psychopharmaka liegt darin, dass Arzneistoffe viel gezielter, dosierter und sanfter biologische Prozesse in unserem Körper beeinflussen können. Vor allem aber soll mittels psychoaktiver Medikamente das natürliche Gleichgewicht von lebenswichtigen Botenstoffen im Gehirn (sogenannte Neurotransmitter) wiederhergestellt werden. Außerdem führen psychopharmische Substanzen selbst bei täglicher und jahrelanger Einnahme nicht zu einer Abhängigkeit – im Gegensatz zu legalen und illegalen Drogen. Psychopharmaka gehören zu den Medikamenten, die am häufigsten verordnet werden. Sie werden nicht nur von Psychiatern und Neurologen verschrieben, sondern auch von Hausärzten und Ärzten aller Fachrichtungen. Wie alle Medikamente können auch Psychopharmaka Nebenwirkungen haben. Deshalb ist der Einsatz nur unter ärztlicher Kontrolle ratsam. Doch wie bei einer Psychotherapie ist für eine erfolgreiche Behandlung eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient wichtig. Aber als Psychotherapeut darf ich keine Medikamente verschreiben, die Experten dafür sind Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie.

Entscheidend für die erfolgreiche Therapie von schwereren psychischen Erkrankungen sind oft vier Säulen: die psychotherapeutische Behandlung, eine medikamentöse Therapie, Unterstützung im sozialen Umfeld und körperliche Betätigung.

"Verschreiben" Sie manchen Patienten Spazierengehen – sprich hat es auch eine therapeutische Wirkung wenn man es alleine, außerhalb der begleiteten Therapie macht?

Ja, das kann durchaus hilfreich sein. Ich erarbeite am Beginn einer Psychotherapie gemeinsam mit meinen Klienten immer Therapieziele heraus: Was möchte er oder sie durch die Therapie erreichen? Was wäre also ein gutes therapeutisches Ergebnis? - Das frage ich sogar am Beginn jeder Einheit. Um Therapieziele erreichen zu können, geht es dann darum, eigene Ressource und Fähigkeiten zu aktivieren bzw. sich diese anzueignen. Oft sind nützliche Ressourcen – etwa kognitive, emotionale, soziale oder körperliche Fähigkeiten – zwar vorhanden, können aber in gewissen Kontexten nicht ausreichend aktiviert werden.

Auch Bewegung oder Gehen kann so eine "verschüttete Ressource" sein, also eine Fähigkeit, die da im Grunde da ist aber nicht mehr ausreichend aktiviert werden kann: man weiß zwar, dass Spazieren in der Natur einem selber guttun würde, es ist aber nicht möglich, weil etwa die Motivation fehlt.

Man könnte zwischen der sogenannten Ich-Seite und der sogenannten Es-Seite unterscheiden. Unsere Ich-Seite entscheidet bewusst durch Willenskraft, und unsere Es-Seite trifft unbewusste Entscheidungen, auf die die Willenskraft keinen direkten Einfluss hat. Üblicherweise arbeiten diese beiden Seiten gut zusammen. Beispielspielsweise bei einer depressiven Erkrankung übernimmt "ES" die Kontrolle und erscheint mächtiger als das, was man weiß und beabsichtigt: "Ich will, aber es geht nicht." Dadurch erleben sich Betroffene oft als willensschwach oder inkompetent und werden zusätzlich von Selbstzweifeln geplagt: "Wie soll mir jemand helfen können, wenn ich selbst nicht schaffe, das zu tun, was ich möchte?" Eine Situation, die es erschwert, sich professionelle Hilfe zu suchen. Bei Depressionen kann es auch hilfreich sein, die "Soll-Ist"-Diskrepanz bewusst zu reduzieren, um leichter wieder in die Gänge zu kommen. Fällt es schwer, sich zu Aktivitäten oder Pflichten aufzuraffen, arbeitet man sich in kleineren Schritten an die Aufgabe heran. So lange, bis sie machbar erscheint. Man nimmt sich also nicht gleich vor, eine Stunde durch den Park zu gehen, sondern beginnt erst mal mit einer kleinen Runde. Zum Beispiel einmal mit 10 Minuten, einmal um den Häuserblock oder eben nur mit ein paar Schritten.

Untersuchungen zeigen leider, dass Menschen auch in Österreich immer weniger gehen und kürzere Wege zu Fuß zurücklegen. Körperliche Untätigkeit ist eine Hauptursache für viele Krankheiten und einer geringeren Lebenserwartung. Auch für manche psychische Störungen stellt Bewegungsmangel ein Risikofaktor dar. So sollen Depressionen in direkten Zusammenhang mit Bewegungsmangel stehen. Alles Lebendige scheint in Bewegung. Überspitzt könnte man sagen: was sich überhaupt nicht bewegt, ist tot.

Ist es ein Zufall, dass wir z. B. fragen "wie gehts?" oder hängen solche Redewendungen tatsächlich mit dem "gehen" zusammen?

Alltagssprachlich drückt sich unsere seelische Befindlichkeit im Zeitwort "gehen" aus. Die Frage nach dem "Wie geht´s?" leitet sich von Ergehen bzw. von Wohlergehen ab. Ursprünglich war damit gemeint: "Wie ergeht es dir?" Umgangssprachlich wird "Wie geht´s?" oft nur als Begrüßungsformel verwendet. Im Englischen unterscheidet man da deutlicher zwischen "How are you?" als Grußformel und "How are you doing?" oder "How is it going?" als Frage nach der Befindlichkeit.

Das Verb "gehen" ist eines der am häufigsten verwendeten der deutschen Sprache und hinsichtlich seiner Bedeutungen äußerst vielfältig. Zahlreiche Redewendungen verwenden das Bild des Gehens, wobei Physisches und Psychisches oft ineinandergreifen. So kann etwas gut ausgehen. Man kann als Sieger hervorgehen. Unser Karriere kann vorangehen. Wir können ein Problem angehen oder ihm bewusst aus dem Weg gehen. Man kann auf eine Problem- oder Fragestellung eingehen. Manchmal geht man lieber auf Nummer sicher, damit nichts schiefgeht. Andere wollen gleich aufs Ganze gehen oder zumindest bis an ihre Grenzen gehen. So manches hätte ins Auge gehen können. Bei bestimmten Dingen hätte man ruhig davon ausgehen können, dass alles gut geht. Uns kann etwas nahe gehen oder sogar unter die Haut gehen. Man kann etwas durchgehen lassen oder über sich ergehen lassen. Personen können aus sich heraus gehen. Wir könnten an die Decke gehen oder auf jemanden losgehen, der uns auf die Nerven geht. Schmerzen können durch Mark und Bein gehen. Man selbst kann durch die Hölle gehen. Der Alltag kann drunter und drüber gehen. Gelegenheiten oder einmalige Chancen können uns entgehen. Es kann einem das Lachen vergehen. Man kann eine Dummheit begehen oder mit besonderer Sorgfalt vorgehen. Gewisse Personen können mit uns gut umgehen. Menschen können andere hintergehen. Wir können Verbindlichkeiten oder Beziehungen eingehen, und Beziehungen können kaputt gehen oder in die Brüche gehen. Sogar Suizide werden begangen. Wenn sich unsere persönliche Lebenslage verbessert, sagt man: "Es geht bergauf" oder "Ich bin übern Berg!"

Das althochdeutsche "gangan" soll als Rückbildung aus "zigengen" (von zergehen machen) anzusehen sein.

*) Die Fragen stellte Vanessa Böttcher, ORF-Magazin- und Servicesendungen




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