Wie begleitete ich meine Kinder in ihrer sexuellen Entwicklung?
Fachartikel von Robert Riedl
Es ist vollkommen normal, wenn Kinder ihren eigenen Körper zu entdecken beginnen. Genauso sind sogenannte Doktorspiele mit Gleichaltrigen völlig normal. Dabei wird auch der Körper anderer Kinder interessiert erforscht bzw. lustvoll erkundet. Zumeist beginnen Kinder ab einem Alter von vier Jahren mit diesen Rollenspielen, in denen sozusagen die "Spiele der Erwachsenen" nachgeahmt werden.
Was aber tun, wenn sich die Kinder etwa im WC einschließen und man nicht weiß, was genau dort hinter der verschlossenen Tür geschieht? Wie vorgehen, wenn man erfährt, dass der Sohn das Geschlechtsteil eines anderen Jungen angreift oder gar in den Mund nimmt? Oder welche Regeln sind hilfreich, wenn sich Mädchen etwas ins Geschlechtsteil stecken möchten? Und wie damit umgehen, wenn das eigene Kind sich in der Öffentlichkeit unangemessen berührt?
Entwicklungspsychologisch ist die sexuelle Entwicklung von Kindern natürlich, wichtig und für die persönliche Entwicklung des Kindes gut. Wichtig ist zu wissen, dass Kinder − wenn sie den eigenen Körper oder den eines anderen Kindes lustvoll zu entdecken beginnen − etwas ganz anderes verstehen, als sich Erwachsene unter der Idee von "Sex" vorstellen. Kinder verfolgen im lustvollen Körper-Erkunden nämlich kein sexuelles oder erotisches Ziel; sie machen es aus Interesse, Neugierde, Spaß oder aus Lust und Laune heraus − kurz gesagt: sie spielen oder erleben das Gegenseitig-sich-Berühren als ein Spiel wie jedes andere. Dabei sollten Eltern ihr Kind in der eigenen Entwicklung möglichst achtsam und hilfreich begleiteten. Bei diesem Begleitungsprozess scheint folgendes Bild nützlich: Angenommen ein kleines Kind, das gerade Stiegensteigen gelernt hat, steht im Treppenhaus und will hinauf. Wie begleitet ein Elternteil nun am besten das Kind, damit ihm nichts passiert, aber es von selber hinaufkommt? Hinten mitgehen? Vorne mitgehen? Unten stehen bleiben, und hinaufrufen? Vorauslaufen, und winken? Auf den Rücken nehmen?
Eine gute Lösung wäre, neben dem Kind zu gehen: immer auf derselben Stufe stehen und einfach mitgehen! Es ginge darum, gemeinsam den nächsten Schritt zur höheren Stufe zu wagen, dem Kind zuzuhören, was es braucht, seine Fragen zu beantworten und auch Dinge bei ihrem "richtigen Namen" zu benennen (wie "Glied" und "Scheide") und Hie und da nachfragen: "Wie geht es denn so?" Das heißt: Mitgehen, wenn das Kind erfolgreich ist oder sich gut weiterentwickelt; wenn es ein Problem hat oder in der persönlichen Entwicklung schlecht voranzukommen scheint, ihm dabei bestmöglich helfen. Kurz gesagt: dem Kind dabei unterstützen, seine eigenen Entwicklungsschritte zu machen − auch in der sexuellen Entwicklung. Es geht dabei um ein passives bis aktives Unterstützen des Kindes, je nachdem was es gerade braucht, um sich gut zu entwickeln.
Treten bei den Eltern nun Sorgen oder Ängste auf, was die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder betrifft, versuchten diese Befürchtungen das Kind immer zu schützen. Angst ist an sich eine hilfreiche (wenn auch unangenehme) Emotion, die für Schutz des Kindes sorgen will: etwa vor Missbrauch, Pornografie oder davor "Opfer" zu werden. Und Ängste lenken unsere Aufmerksamkeit ganz unwillkürlich auf mögliche Gefahren und Bedrohungsszenarien. Beobachtet man nun oder hat man als Elternteil das unangenehme Gefühl, dass in der sexuellen Entwicklung des eigenen Kindes gesunde Grenzen überschritten werden, ist es ratsam, für die Herstellung dieser klaren Grenzen zu sorgen, indem man für klare Regeln sorgt − auch was den Umgang mit dem Körper oder das Erkunden des eigenen oder anderen Körpers angeht.
Denn ein "Doktorspiel" wird eine gesunde Grenze überschreiten, wenn...
- bei einem der Kinder keine Freiwilligkeit vorliegt,
- sexuelle Handlungen aus der Erwachsenenwelt nachgespielt werden (wie bei Zungenküssen oder beim Hineinstecken von Gegenständen in Körperöffnungen),
- eines der beteiligten Kinder Geheimhaltungsdruck ausübt,
- Kinder physisch oder verbal verletzt werden oder sexistische Ausdrücke verwendet werden oder
- Rollen zu starrt sind (etwa wenn ein Kind immer der Doktor ist)
Die berühmte US-amerikanische Psycho- und Familientherapeutin Virginia Satir (1916 − 1988) sprach von drei Fragen, an denen sich ein gutes Zusammenleben in der Familie entscheidet:
- Wie wird in der Familie mit Selbstwert umgegangen oder herrscht ein wertschätzender Umgang miteinander?
- Wie wird miteinander kommuniziert oder verständigen sich die Menschen sinnvoll miteinander? Und:
- Gibt es klare Regeln für das Zusammenleben und sind die elterlichen Vorgaben menschlich, angemessen und veränderbar?
Da Erwachsene bei Doktorspielen naturgemäß ausgeschlossen werden (auch das ist völlig normal), sollten Eltern mit ihren Kinder deshalb gewisse Regeln für das Doktorspiel vereinbaren:
- Mein Körper gehört mir!
- Wer ein komisches Gefühl hat, sagt: "NEIN!"; und "Nein" heißt "Nein!"
- Wir spielen das Unterhosen-Guck-Mal-Spiel nur mit Gleichaltrigen.
- Wir tun uns nicht weh und keiner steckt jemandem etwas in eine Körperöffnung.
- Wer ein komisches Gefühl hat, holt einen Erwachsenen zur Unterstützung.
Regeln können in Familien auf drei Ebenen eingeführt werden:
- Regeln, die die Eltern vorgeben − ohne darüber zu diskutieren, weil diese etwa sehr wichtige Werte der Eltern repräsentieren.
- Regeln, über die die Eltern entscheiden, bei denen die Kinder aber nach der Meinung gefragt werden
- Regeln, die Eltern und Kinder demokratisch und gemeinsam beschließen − hierzu sind auch oft Diskussionen notwendig.
In jeder lebendigen Beziehung − ob in der Partnerschaft oder zwischen Eltern und Kindern − geht es darum, dass zwei Menschen ein für sie passendes Gleichgewicht zwischen Verbundenheit und Autonomie finden. Beides sind menschliche Grundbedürfnisse: einerseits das Bedürfnis nach einem "Wir" bzw. nach Nähe mit dem anderen; gleichzeitig bleiben wir aber in jeder Beziehung auch ein "Ich" mit eigenen Bedürfnissen und eigenen Zielen; es gibt in uns also auch immer das Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit. So haben Kinder etwa das Bedürfnis nach "elternfreier Zeit", d. h. nach zeitlichen und örtlichen Räumen, in denen sie ungestört, allein oder für sich sein können. Es geht also auch in der "Eltern-Kind"-Beziehung darum, mit dem Gegenüber bestmöglich darüber zu verhandeln – solange bis die Waage zwischen gemeinsamer Nähe und individuellen Freiheiten für beide ausbalanciert ist – immer jedoch mit der Absicht, sich an die vereinbarten Regeln zu halten. Denn Eltern tragen pädagoschische Verantwortung für ihre Kinder; außerdem geben sie in ihrer Erziehung bestimmte Werte an ihre Kinder weiter – auch was den lustvollen Umgang mit dem eigenen Körper oder den anderer betrifft.
Übrigens: unser Gefühl von "Scham" ist völlig normal und gesund (wenn auch es unangenehm ist), weil es zum Beispiel für ein angemessenes Verhalten in der Öffentlichkeit sorgt. Es ist uns quasi unwillkürlich behilflich, für sogenannte Anpassungsprozesse zu sorgen: dass wir uns etwa in öffentlichen Räumen anders verhalten als zuhause. Es können jedoch auch nicht hilfreiche Gefühle von "Scham" auftreten, weil sich die eigenen Eltern etwa schwer damit taten, über Sexualität zu sprechen oder uns "aufzuklären". Für die sexuelle Entwicklung von Kindern ist eine sexuelle Aufklärung, die mit Würde und in für Kinder angemessenen Worten und Bildern erfolgt, jedenfalls wünschenwert und förderlich.
→ Warum Scham eine gute Sache ist
→ Video-Information: Gefühle und Emotionen
→ Video-Vortrag: Scham und Schamlosigkeit
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