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Psychotherapie als "Übergangsritual" bei Lebensumbrüchen

Fachartikel von Robert Riedl

Anfang des 20. Jahrhunderts entwarf Arnold van Gennep (1873 – 1957) ein theoretisches Modell, um sogenannte Übergangsrituale in indigenen Gesellschaften bzw. rituelle Praktiken bei individuellen und sozialen Veränderungsprozessen zu beschreiben. Dieses Erklärungskonzept des französischen Ethnologen erweist sich meiner Ansicht als hilfreiche Theorie, um auch biografische Lebensübergänge von Psychotherapie-Klienten – sei es in persönlichen, psycho-sozialen oder gesellschaftlich-kulturellen Kontexten – besser verstehen zu können.

Unter einem Ritual verstand Arnold van Genepp eine Form zeremonieller Begleitung, die den Übergang von einem Zustand in einen anderen – "von einer kosmischen oder sozialen Welt in eine andere" – begleite; Rituale sollen aber auch sicherstellen, dass die Veränderungen im Leben eines Individuums oder einer sozialen Gruppe reglementiert und kontrolliert werden, "damit die Gesellschaft als Ganzes weder in Konflikt gerät, noch Schaden nimmt." Damit regeln Riten die soziale Ordnung und legitimieren zugleich Veränderungen innerhalb der sozialen Gemeinschaft. Sogenannte Übergangsriten sah van Genepp als besondere Kategorie der rituellen Begleitung.

Insbesondere für die Systemische Psychotherapie scheint es nützlich, psychotherapeu-tische Arbeit als eine Art Übergangsritual betrachten zu versuchen. Aus "Systemischer Sicht" erwies sich die Rolle des Psychotherapeuten zielführender für den Therapieerfolg, wenn er sich gegenüber seinen Klienten eher als "Erwartungsenttäuscher" hinsichtlich einer vorgefertigten Gute-Ratschläge-Ideologie zeigt. Analog zum Schamanen oder Zeremonienmeister im Übergangsritual tritt der Therapeut vielmehr als "Vermittler zwischen den Welten" auf (zwischen der Welt des Alltäglichen und Problemsystems und der Welt der Transformation und Lösungskompetenz – mit allen Widersprüchen): er lenkt die Aufmerksamkeit des Klienten ins notwendige Erleben seines Wandels, um die Verwirklichung von gezielter Veränderung zu begünstigen. Klienten erhalten in einer Psychotherapie – wie bei Ritualen – einen sicheren Rahmen und "Wegweiser" für erwünschte Veränderungsprozesse im Leben.

In sogenannten postmodernen Gesellschaften, wo klar definierte Lebensübergänge – wie auch eindeutige Rituale – vielmehr die Ausnahme darstellen, scheint es für eine zeitgemäße Psychotherapie umso wichtiger zu sein, berücksichtigen zu versuchen, dass in unserer stärker und stärker ausdifferenzierten, mobilen und digitalen, globalisierten, multikulturellen und neoliberalen Sozialstruktur kollektive und "normbiografische" Veränderungen nur mehr selten stattfinden.

Ulrich Beck (1944 – 2015) beschrieb in (seinem gleichnamigen Buch) Risikogesellschaft einen (dem 18. und 19. Jahrhundert) vergleichbaren Gesellschaftswandel für die europäische Bevölkerung im 20. Jahrhundert, "in dessen Verlauf die Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Männern und Frauen – freigesetzt werden, ähnlich wie sie im Laufe der Reformation aus der weltlichen Herrschaft der Kirche, in die Gesellschaft entlassen wurden." Dieser "gesellschaftliche Individualisierungsschub von bislang unerkannter Reichweite und Dynamik" habe sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen, "und zwar bei weitgehend konstanten Ungleichheitsrelationen [...] Auf dem Hintergrund eines vergleichsweise hohen materiellen Lebensstandards und weit vorangetriebenen sozialen Sicherheiten wurden die Menschen in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionellen Klassenbedingungen und Versorgungsbezügen der Familie herausgelöst und verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen."

Ob Lebensübergänge im 21. Jahrhundert mit größeren Risiken verbunden sind als in archaischen Kulturen, sei dahingestellt. Heutzutage unterliegen Umbrüche – seien es persönliche Lebenskrisen oder politische Revolutionen (wie im Arabischen Frühlung in den 2010er Jahren) – jedoch zumeinst unkalkulierbaren Ausgängen. Lebensverläufe, soziale Erwartungen oder die Aufnahme in und der Ausschluss aus Gruppen unterliegen zuneh-mend der Unberechenbarkeiten von Globalisierung und Digitalisierung des Informationsaustausches sowie der sogenannten Kultur- und Wertevermischungen. Biografien sowie technologische, wirtschaftliche und politische Entwicklungen scheinen kaum mehr zu bestimmen zu sein und unterliegen sich "ständig" verändernden Regeln. Hinzu kommen Migrationsbewegungen erheblichen Ausmaßes, sodass die formale Gestaltung von Übergängen – und damit auch die Arbeit eines Psychotherapeuten – kaum mehr herkömmliche Ausdrucksformen und Symbolsysteme zu unterliegen scheinen.




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